Freitag, 20.09.2002

Silvester mit sieben Tischen in vielen Ecken

Vierzehnheiligen/Jena. (tlz) Liegt der Mantel der Geschichte über einem Dorf, muss das fürs Erste nicht zu seinem Besten sein. - Oktober 1806, die Schlacht bei Jena. Alle Bewohner von Vierzehnheiligen haben die Beine unter die Arme genommen. Nur Bauer Krippendorf, so viel ist überliefert, hat sich am Westrand des Dorfes mit seinem Vieh versteckt, und zwar auf dem Gelände beim Haus Nr. 1. Alle wussten, dass Rind und Schwein von Napoleons Soldaten niedergestochen und somit die Existenzgrundlagen der Bauern vernichtet wurden.

Gut möglich ist, dass das Haus Nr. 1 noch mehr in den Brennpunkt des Geschehens rückte, nachdem die Preußen ihren einzigen kleinen Teilsieg der Schlacht bei Jena gelandet, sich die Franzosen wohl auch in jenem Gehöft verschanzt hatten. Dafür spricht einiges - zum Beispiel, dass Anneliese und Harald Seime, die heutigen Besitzer, auf dem Hof und im Gebälk Kartätschen- und Steinkugeln gefunden haben. Seimes sagen es in unserem Gespräch einhellig und fast entschuldigend: Ach ja, die Geschichte unseres Hauses! Das müssen wir erst noch vertiefen. Dafür hatten wir einfach noch keine Zeit.

"Keinen Respekt vor dieser Bude"

Dies wiederum ist gut nachvollziehbar, wenn man eine Ahnung bekommt von der "Wiedergeburt" des Hauses. Jene Geschichte ist wechselvoll, hat aber doch ein Happy-End, das mit der Ehrung innerhalb des von der TLZ geförderten Jenaer Fassadenpreis-Wettbewerbes im vorigen Jahr besonders hervorgehoben wurde.

Anneliese Seime blickt zurück in tiefe DDR-Zeiten: "Damals brauchte doch jeder seine Datsche. Vor allem, wenn man wie wir drei Kinder hatte." Versuch Nr. 1 mit einem Grundstück unterhalb des Fuchsturms machte Seimes nicht glücklich. 1976 schließlich begann die Mission Vierzehnheiligen auf jenem "Abrissgrundstück" mit Drei-Seiten-Hof und dem Haus Nr. 1, in dem sich vormals die Dorf-Poststelle befand. "Vor lauter Brennnesseln war kein Durchkommen. Aber ich stamme aus einer Tischlerfamilie, weiß, was man zuerst machen kann. Ich hatte keinen Respekt vor dieser Bude, ohne freilich richtig zu ahnen, was uns an Baumaßnahmen erwartet", sagt Anneliese Seime. Und Harald Seime, Jenas weithin bekannter Nestor der Pantomime-Kunst: "Wir haben uns am ersten Tag gesagt, dass das zu schade zum Abreißen ist."

Wie bedauerlich, dass Videotechnik von DDR-Haushalten so weit entfernt war wie der Mars von der Erde! Sonst hätten Seimes heute viel beisteuern können für Dokumentarfilme, die von der Findigkeit der "Ossis" in Zeiten der Mangelwirtschaft erzählen. Es begann mit der Ziegelausfachung der vorderen Giebelseite, alles gebaut mit Abrissmaterial. Ganz zu Beginn natürlich auch das Dach, das Seimes mit alten Ziegeln deckten. Harald Seime: "Wir waren immer mit Kind und Kegel unterwegs, haben uns da als Brigade qualifiziert. - Zum Beispiel diese Sache mit der Klangprobe, um zu wissen, ob im Ziegel ein Riss drin ist." Bei den alteingesessenen Nachbarn war das Verständnis für Seimes Projekt zunächst nicht sonderlich groß. Beispiel - der Einbau der türkisfarbenen Fensterrahmen. "´Was machtn Ihr da? Griene Fanster!?´, fragte ein Bauer", so berichtet Harald Seime.

Nach der Wende mussten sich Seimes schließlich entscheiden, ob das Vierzehnheiliger Gehöft mehr werden sollte als ein Wochenend-Aufenthaltsort. Die Entscheidung "Alterssitz" fiel leichter, weil die Bedingungen in Seimes städtischer Mietwohnung immer schlechter geworden waren. Nur gingen fünf, sechs Jahre ins Land, ehe Seimes wirklich sagen konnten: Es ist vorbei mit dem Leben auf einer Baustelle. Zu tun hatte das u.a. mit dem Architekten, den Seimes für das Projekt unter Vertrag genommen hatten. Matthias Neumann vom Jenaer Denkmalamt, der das als Einzeldenkmal geführte Haus fachamtlich unter seinen Fittichen hat, sagt heute mit Blick zurück: "Da ist einiges schief gelaufen. Selbst vom Denkmalschutz-Aspekt einmal abgesehen." Zu wenig denkmalgerecht, große Räume, schnell fertig sein wollen - auf diese Formel bringt Harald Seime die Misere, die in Prozessen und einem winterlangen Baustopp ihre Höhepunkte hatte. Insbesondere die Vielzahl kleinerer Räume (jetzt sind es sechs an der Zahl plus zwei Bäder oben sowie Küche und Bad unten) ist aber das Typische an dem so genannten Drei-Zonen-Haus. Und weil dieses Charakteristikum unter dem zweiten, mit Denkmalverdachtsfällen vertrauten Architekten gerettet wurde, kann Anneliese Seime heute eine griffige Formel dafür bieten, wie das mit den regelmäßig vielen Gästen im Hause Seime läuft: "Silvester mit sieben Tischen in vielen Ecken."

Balken aus dem Roten Turm

Noch heute ist Anneliese Seime begeistert, wenn sie an die letzthin angeheuerte Zimmerei aus Zella-Mehlis denkt. "Da gibt´s keinen Nagel und kein Winkelblech an den Balken." Verwendet wurden ausschließlich recycelte Hölzer u.a. vom Bergehof in Gernewitz und aus jenen Resten vom Roten Turm, die vor dessen dramatischem Einsturz übrig waren. Skurril: Am Tage, als einer dieser Turm-Balken auf der Ostseite des Gebäudes eingebaut wurde, fiel der Rote Turm in sich zusammen. Von vielen Feinheiten der Sanierung berichten die Seimes, woran selbst der Laie die Liebe der Familie zum Originalgetreuen erkennt. "Wir haben den Spleen behalten, oftmals sogar noch unseren Architekten ausgetrickst, weil wir es älter wollten. Die Ziegelfensterbretter, das ist alles unser Spleen", sagte Anneliese Seime. Und so wird dem Gast berichtet von Schilfmatten mit Lehmputz zur Wärmeisolierung nach innen, von der Wasserisolierung der Nordseite mit Hanfputz. Drei Mal musste die Fassade neu gemacht werden - der wahre Horror: Oberputz, der sich komplett löste. Zufrieden sind Seimes, dass sie auf Heizkörper fast vollständig verzichten, die Heizung in Wand- und Fußboden einbringen konnten. Harald Seime, in Stadtroda aufgewachsen, denkt an die Bauernhäuser seiner Großväter in Gernewitz und Rauschwitz. "Da gab´s den kühl feuchten Eingangsbereich, die nie geheizte ´gute Stube´ und die Küche." Deshalb bleibe für ihn immer die Wohligkeit verblüffend, wenn er im Winter sein Haus betritt.

Jetzt drohen die "Spargel"-Bataillone

Ein Blick voraus: Die ehemalige Scheune an der Westseite des Gehöfts besteht nur noch in Grundmauerresten. Bewusst erhalten haben Seimes einige "Zitate" der Fachung, die an Nachbars Mauer lehnt. Wäre noch die ehemalige Stallung, die sich parallel zum Haupthaus streckt, im First freilich gebogen ist, als habe Riese Timpetu mal draufgehauen. Harald Seime zuckt mit den Schultern. "Wenn jemand von den Kindern sich ranwagt ..."

Irgendwie hat das Haus Nr. 1 auf besondere Weise weiterhin mit der Schlacht, genauer: mit dem Schlachtfeld zu tun. Anneliese Seime ist Chefin des Vereins "Lebensraum Gönnatal e.V.". Und den treibt eine große Sorge: der Plan, bei Vierzehnheiligen Windkraftanlagen aufzustellen. In den benachbarten Apoldschen Ländereien haben sich schon einige "Windspargel"-Bataillone postiert. Im Süden, auf dem Cospoth bei Jena, ist eine weitere Kompanie zu erschauen. Werden nun noch tatsächlich in ungebührlicher Nähe zu Vierzehnheiligen und Krippendorf Windräder in Stellung gebracht?

20.09.2002    Von Thomas Stridde

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